Die Goldenen und die Glocke am Ende der Zeit – Leseprobe

Der Traum

Als ich erwachte, erspürte ich mein virtuelles Ego, wie es zusammengekrümmt vor dem Eingang lag. Die Erinnerung an die Ereignisse der vergangenen Nacht kam im Nu zurück. Ich rappelte mich auf und ging auf die Pforte meines eigenen Unbewussten zu, die leicht angelehnt war. In meiner Erinnerung stieg eine wunderschöne Musik auf und sie verblasste ebenso rasch. Gleichzeitig hörte ich gedämpfte Worte zu mir herüberklingen, möglicherweise etwas abgeschwächt, da ich zu ängstlich gewesen war, ihnen in meinen eigenen Träumen bewusst gegenüber zu treten. Ich öffnete die Tür ganz und stellte fest, dass viele seltsam anmutende Personen brav auf ihren Stühlen sassen. Alle waren sie dem leeren Podium eines Erzählers zugedreht und warteten offenbar darauf, dass er jeden Moment auf der Bühne erscheint. Wie verdichtete und zusammengepresste Träume waren sie in gazeartige Nebelschleier gehüllt. Zudem schienen sie ziemlich bewegungslos, schliefen womöglich jenen tiefen Schlaf, aus dem ich gerade erwacht war. Als sich meine Augen auf das geistige Zwielicht in meiner Gedankenwelt eingestellt hatten, veränderten sich auch die Gestalten. Plötzlich erschienen sie mir wie in enge Bandagen gepackt, ein dichtes, weisses Gewebe, das von der sicheren Hand meines Kontrollbewusstseins erfolgreich zusammengehalten wurde. “Das sind keine Leichen”, sagte die Stimme in meinem Kopf. Es waren dicke Lagen von Gespinsten, von denen ich zunächst glaubte, dass sie meinen gesamten Traum einhüllten. Da wurde es mir plötzlich klar: Es waren meine eigenen Gedanken, tief in ihre Stühle gepresst und alle dem leeren Sitz des Erzählers zugedreht, den sie aber nirgends sehen konnten – denn ich stand ja hinter ihnen. Als sie sich im Traum zu mir umdrehten, sah ich, dass jeder der nebligen Kokons eine Gestalt aus meiner Erinnerung darstellte. Ich sah auch, dass sie keine Gesichter hatten. Es waren offensichtlich meine Augen, die sie benutzten. Deshalb sah ich durch sie hindurch nur auf meine eigenen Geschichten zurück, allesamt verdrängte Gesichter aus dem Fond meiner Erinnerungen, die irgendwie ausgelöscht oder im Reich der Verdrängung abgetaucht erschienen: starrend durch depressive Leere auf mein inneres Nichts. Da! Am Ende der Reihe im hinteren Bereich meines Gesichtsfeldes regte sich eine der vermummten Gestalten plötzlich auf ihrem Stuhl. Als ich auf sie zuging und mir dabei ungeformte Gedanken durch den Kopf gingen, bemerkte ich, dass ihre geschlossenen Augenlider plötzlich aufsprangen und ein ungezielter Blick sich nach einigem Umhertasten auf mich richtete. “Wer sind Sie?”, fragte ich sie. “Sie sind die einzige Person, die mich hier sieht.” “Keine Ursache”, hörte ich sie wie durch einen dichten Nebel sagen. “Ich bin Ihr eigenes Ungesehenes, welches sich in diesem Moment in Ihnen erkennt.” …